Während alle Welt auf GPT-5 wartet, entwickelt die Schweiz im Stillen ihre eigenen KI-Systeme – und die meisten merken es nicht einmal.
Die versteckte KI-Revolution der Schweiz
In den Laboren der ETH Zürich, den Rechenzentren der Grossbanken und den Forschungsabteilungen der Pharmariesen passiert gerade etwas Bemerkenswertes: Die Schweiz baut ihre eigene KI-Infrastruktur auf. Nicht mit grossem Tamtam, sondern typisch schweizerisch – diskret und effizient.
Die Abhängigkeit von amerikanischen KI-Modellen ist für die Schweizer Wirtschaft eine tickende Zeitbombe.
Was läuft da genau?
Mehrere Schweizer Institutionen arbeiten derzeit an spezialisierten KI-Modellen:
- UBS und Credit Suisse (bzw. deren Nachfolger) entwickeln eigene Sprachmodelle für Finanzanalysen
- Roche und Novartis trainieren KI-Systeme für die Medikamentenentwicklung
- Die Bundesverwaltung testet intern ein Schweizer Sprachmodell für Behördenkommunikation
- EPFL und ETH Zürich arbeiten an einem mehrsprachigen Modell für alle vier Landessprachen
Warum braucht die Schweiz überhaupt eigene KI-Modelle?
Die Antwort liegt in drei kritischen Bereichen:
1. Datenschutz und Bankgeheimnis
Schweizer Banken können ihre sensiblen Kundendaten nicht einfach an ChatGPT oder Claude schicken. Das wäre nicht nur fahrlässig, sondern schlicht illegal. Ein eigenes Modell, das auf Schweizer Servern läuft und Schweizer Datenschutzstandards erfüllt, ist keine Option – es ist eine Notwendigkeit.
2. Mehrsprachigkeit
Die meisten grossen KI-Modelle sind auf Englisch optimiert. Deutsch funktioniert einigermassen, aber bei Französisch, Italienisch und erst recht Rätoromanisch wird es dünn. Ein Schweizer Modell muss alle vier Landessprachen gleichwertig beherrschen.
3. Regulatorische Unabhängigkeit
Was passiert, wenn die USA morgen den Zugang zu GPT-4 für Schweizer Unternehmen sperren? Oder wenn die EU neue KI-Regulierungen einführt, die für die Schweiz nachteilig sind? Ohne eigene Modelle wäre die Schweizer Wirtschaft verwundbar.
Die versteckten Projekte
Swiss-GPT (Codename)
Ein Konsortium aus Schweizer Universitäten arbeitet seit 2023 an einem Basis-Sprachmodell. Die Parameter:
- 30 Milliarden Parameter (zum Vergleich: GPT-3 hat 175 Milliarden)
- Training auf Schweizer Supercomputern (Piz Daint, Alps)
- Fokus auf Schweizer Rechtstexte, Verwaltungsdokumente und wissenschaftliche Publikationen
- Geplante Fertigstellung: Q3 2025
FinanceAI Swiss
Die Schweizer Bankiervereinigung koordiniert die Entwicklung eines spezialisierten Finanz-KI-Modells:
- Training auf anonymisierten Transaktionsdaten
- Spezialisierung auf Compliance und Risikomanagement
- Integration in bestehende Bankensysteme
- Erste Pilotprojekte laufen bereits bei drei Grossbanken
MedAI Helvetica
Schweizer Pharmaunternehmen entwickeln gemeinsam KI-Modelle für:
- Molekülanalyse und Wirkstoffvorhersage
- Klinische Studienauswertung
- Personalisierte Medizin
- Regulatorische Dokumentation
Die Herausforderungen
Der grösste Feind der Schweizer KI-Souveränität ist nicht die Technologie – es ist die fehlende öffentliche Diskussion.
Technische Hürden
Die Schweiz hat exzellente Forscher, aber:
- Die Rechenkapazität ist begrenzt (auch mit den neuen Supercomputern)
- Der Zugang zu Trainingsdaten ist schwierig (Datenschutz!)
- Die Koordination zwischen Akademie und Industrie könnte besser sein
Finanzielle Realitäten
Die Entwicklung eines konkurrenzfähigen KI-Modells kostet:
Komponente | Geschätzte Kosten (CHF) |
---|---|
Rechenzeit für Training | 10-50 Millionen |
Datenaufbereitung | 5-15 Millionen |
Forschungspersonal | 20-40 Millionen/Jahr |
Infrastruktur | 15-30 Millionen |
Politisches Vakuum
Während andere Länder nationale KI-Strategien verabschieden, diskutiert die Schweiz noch. Es gibt:
- Keine klare Bundesstrategie für KI-Souveränität
- Keine dedizierte Förderung für Schweizer KI-Modelle
- Keine öffentliche Debatte über die Risiken der Abhängigkeit
Was bedeutet das für Schweizer Unternehmen?
Kurzfristig (2025)
Unternehmen sollten:
- Evaluieren, welche ihrer Prozesse zwingend Schweizer KI-Lösungen benötigen
- Kontakt zu den laufenden Projekten aufnehmen
- Eigene Daten für mögliches Training vorbereiten
- Hybride Strategien entwickeln (internationale und nationale Modelle)
Mittelfristig (2025-2027)
Die ersten Schweizer Modelle werden verfügbar sein. Unternehmen müssen:
- Integration in bestehende Systeme planen
- Mitarbeiter auf neue Tools vorbereiten
- Compliance-Prozesse anpassen
- ROI der eigenen vs. fremden Modelle evaluieren
Langfristig (2027+)
Die Schweiz könnte zum Vorreiter für souveräne KI-Lösungen werden – wenn die Weichen jetzt richtig gestellt werden.
Die unbequeme Wahrheit
Die meisten Schweizer Entscheidungsträger unterschätzen die strategische Bedeutung eigener KI-Modelle massiv. Während sie noch über Digitalisierung diskutieren, entscheidet sich bereits, wer in der KI-Ära die Kontrolle über kritische Infrastruktur hat.
Wer heute keine eigenen KI-Modelle entwickelt, wird morgen von fremden Modellen abhängig sein.
Was jetzt passieren muss
Auf Bundesebene
- Klare KI-Souveränitätsstrategie verabschieden
- Fördergelder für Schweizer KI-Projekte bereitstellen
- Rechtliche Rahmenbedingungen schaffen
- Internationale Kooperationen (aber mit Schweizer Kontrolle) fördern
In der Wirtschaft
- Branchenübergreifende Allianzen bilden
- Investitionen in KI-Infrastruktur erhöhen
- Talente in der Schweiz halten (Brain Drain verhindern)
- Open-Source-Ansätze prüfen
In der Forschung
- Fokus auf angewandte KI-Forschung
- Engere Kooperation mit der Industrie
- Aufbau spezialisierter Kompetenzzentren
- Internationale Sichtbarkeit erhöhen
Der Weckruf
Die Schweiz steht an einem Scheideweg. Entweder wir bauen jetzt unsere eigene KI-Infrastruktur auf – oder wir werden dauerhaft von ausländischen Tech-Giganten abhängig sein. Die Technologie dafür haben wir. Das Geld auch. Was fehlt, ist das Bewusstsein für die Dringlichkeit.
Die stillen Projekte in Laboren und Rechenzentren sind ein guter Anfang. Aber sie reichen nicht. Wir brauchen eine nationale Diskussion über KI-Souveränität. Wir brauchen politischen Willen. Und wir brauchen Unternehmen, die bereit sind, in Schweizer Lösungen zu investieren – auch wenn die amerikanischen Alternativen (noch) besser sind.
Die Schweiz braucht kein zweites Silicon Valley – aber sie braucht dringend ihre eigenen KI-Modelle, bevor es zu spät ist.